Führen aus der Ferne – Problem oder Chance?

In Militärfilmen sieht man die Krieger per Sprechfunk den rettenden Helikopter heranlotsen, Meldungen an die Zentrale hecheln oder umgekehrt Durchhalteparolen vom Obersten entgegennehmen. Das Drehbuch kennt keine Funklöcher und keine toten Anschlüsse. Wer heute als Vertriebsmanager mit seinen tüchtigen Außendienstlern an der Verkaufsfront operiert, kann von solchem Verständigungsluxus nur träumen. Wie ihm geht es rund 360.000 Führungskräften allein in Deutschland. Auf den unterschiedlichsten Ebenen sollten sie das Geschehen im Griff haben. Ihre Krieger allerdings bekommen sie nur selten zu Gesicht und hören nur gelegentlich voneinander. Das kann zum Normalfall werden.

Der promovierte Produktionsvorstand ist ein einflussreicher Mann, eine Institution sozusagen Mit seinen acht Werksdirektoren an ebenso vielen Standorten herrscht er über fünftausend Arbeitsplätze. Einige der Herren hat er selber ausgewählt. Andere hat er geerbt. Sie treffen sich drei oder vier Mal im Jahr und natürlich auch zur Weihnachtsfeier. Die klügeren von ihnen haben sich aber längst ein paar direkte Drähte zur Zentrale gezogen. Der kleine Dienstweg schlängelt sich durch die strukturellen Kontaktlücken. Sie hüten ihre Fürstentümer und leisten als Tribut die wöchentlich oder monatlich zu liefernden Zahlen. Vor Neuerungen und Änderungen seitens der „Zentrale“ sind sie auf der Hut und unterhalten zu ihrer Sicherheit regelrechte Nachrichtendienste. Wer ihr Management auf den Prüfstand stellen wollte, müsste schon selber Stehvermögen haben. Denn im Laufe der Zeit hat sich jeder von ihnen ein paar Privilegien gesichert, die er nicht durch Kooperation aufs Spiel setzen will. Bei Gelegenheit wird der Produktionsvorstand sagen, er verantworte ein Produktionsvolumen von Soundso viel. Die Verantwortung für seine Werkchefs trägt derweil die Personalabteilung für Führungskräfte.

Führen aus der Ferne – ein weißer Flecken in der management map?
Sehr viel weiter „unten“ wirkt der Distriktleiter einer Filialgruppe ein wenig gehetzt. Einerseits verrät sein Tacho, dass er mit 75.000 Jahreskilometern jedenfalls mehr fährt als führt. Andererseits hält er die Empfehlungen und Ratschläge der jährlichen Leiterseminare für utopisch: Er soll seine Filialleiter informieren, instruieren, planen, soll für sie klare Entscheidungen treffen, soll kontrollieren und motivieren. Das alles würde er ja auch gerne tun, wenn er mal Zeit dafür hätte. Im Moment ist er schon froh, wenn bei den viel zu kurzen Besuchen wenigstens die „dicken Hunde“ auf den Tisch kommen. Und er ist dankbar, dass ihm die Personalabteilung schon mal die Urlaubsplanung seiner Filialchefs abgenommen hat. Gewiss, meint er, könnte man mehr tun. Aber da sitzt seinen „Filialern“ ja auch die Stundenstatistik im Genick. Das Meeting, einmal im Jahr, ist der Höhepunkt seiner Distriktarbeit. Für seine große Motivationsrede sammelt er schon Monate vor dem großen Tag Zitate und Beispiele. Diese jährliche Rede sei der Kern seines Führungserfolgs, sagt er.

Auch der Leiter des Außendienstes eines Softwarevertriebs sieht seine Mitarbeiter nur selten. Zu besonders wichtiger oder schwieriger Kundschaft geht er aber bereitwillig mit und bringt manche Akquisition ins Trockene. Dabei hilft ihm seine lange Erfahrung. Er kennt auch die Produkte besser als seine Mitarbeiter und hat bei der Verhandlung über Preise und Konditionen mehr Befugnisse. Er sieht sich als Problemlöser, als Trouble Shouter, der seinen Mitarbeitern hilft, die Abschlussvorgaben zu erfüllen. Die „Jungens“ respektieren ihn. Manche von ihnen sieht er wöchentlich, andere wieder nur vierteljährlich. „Solange die Zahlen stimmen“, sagt er, „lassen wir sie in Ruhe!“ Wenn einer seiner Außendienstler wechselt, wird ihm schon bald ein Neuer zugewiesen. Das ist das Einzige, was ihn wirklich stört. Bis der Neue nämlich wieder von „allein läuft“, muss er ihn häufiger begleiten und mit Tipps versorgen. „Das ist die Führungsaufgabe“ weiß er.

Die filialisierte Struktur vieler großer Unternehmen und der extensive Bedarf an mobilen Verkaufs-, Montage- und Dienstleistungseinheiten hat eine Subkultur entstehen lassen, in der jeder ernsthafte Führungsanspruch zur Farce geworden ist. Ihr Leitbild ist der effiziente „Selbstgänger“, ein autistischer genügsamer Funktionsträger, der über das Berichtswesen unter Kontrolle gehalten wird. Der Regisseur James Cameron hat ihm 1984 mit der Terminator-Saga ein heroisches Denkmal gesetzt. Die Realität allerdings sieht keineswegs heroisch aus.

„Ranking“-Defizite sind teuer
Man muss kein Organisationsexperte sein, um Bedauern für die Schlüsselkinder der Filial- und Außendienstsysteme zu empfinden. Viele von ihnen haben nicht einmal eine Vorstellung davon, was ihnen in dürftigen Führungsstrukturen vorenthalten wird. Aber auch die Unternehmensspitzen verschwenden wenig Gedanken auf die Frage, wie viel Potential ihnen durch defizitäre Leitung täglich verloren geht.

Tatsächlich ist jeder, der leisten soll und will, auf den Vergleich mit gleich oder ähnlich Beschäftigten angewiesen. Dieses „Ranking“ in einer überschaubaren Gruppe gehört unstreitig zu den effizientesten und stabilsten menschlichen Antriebsfaktoren auch in einfachsten Tätigkeiten. In Auftreten und Kleidung, in Kenntnissen und Fertigkeiten und sogar in Ausdruck und Stimmung läuft ein permanentes gegenseitiges Sich-Messen, -Zuordnen und -Bewerten ab, das dem Verhalten bewusst und mehr noch unbewusst Richtung und Ziel gibt. Von ihrem Vorgesetzten, vom Leiter oder Chef erwarten die Mitarbeiter, dass er ihnen dazu immer wieder Impulse gibt und Schwerpunkte setzt. Wird diese Erwartung nicht erfüllt, treten nach und nach externe Impulsgeber in die Lücke, die dann allerdings nicht auf die berufliche Beschäftigung ausgerichtet sind. Stattdessen werden „private“ Bezüge und Interessen dominant. Ihnen fließt sozusagen automatisch zu, was im Job nicht abzurufen war. So erweist sich in vielen Fällen das so genannte Hobby bei näherer Betrachtung nicht etwa als die „work-life-balance“, als Ausgleich zur beruflichen Anspannung, sondern ganz im Gegenteil als außerbetriebliche „Ranking“-Kulisse. Dies erklärt, warum so mancher an sich fähige Mitarbeiter, der privat als zäher Häuslebauer, als ideenreicher Urlaubsreiseplaner oder hingebungsvoller Freizeitkünstler reüssiert, im beruflichen Alltag so kraft- wie planlos in innerer Emigration vor sich hinwerkelt. Und das erklärt auch, warum zuweilen tatsächliche Könner frustriert ihrer beruflichen Chance den Rücken zuwenden.

Nur der professionelle Leiter kann das natürliche „ranking“ in der Leistungsgruppe prägen und steuern. Er ist als Katalysator des „rankings“ unverzichtbar. Seine vorrangige Tätigkeit besteht aber nicht nur darin, Gruppensituationen für das „ranking“ zu schaffen. Er muss auch, um glaubwürdig zu sein, für Information und Instruktion sorgen. Er muss planen, was jeweils zu planen ist. Er muss zu Entscheidungen verfügbar sein. Er muss auch von Tag zu Tag die Ergebnisse des Einzelnen und der Gruppe prüfen und kommentieren. Und ebenso Tag für Tag muss er Mut machen, Möglichkeiten und Ziele zeigen, muss nicht zuletzt antreiben und bewegen.

Das alles sind konkrete Tätigkeiten, die viel Aufmerksamkeit und gute Intelligenz fordern, die den Mitarbeitern Maßstäbe und Sicherheit vermitteln.
Es gibt keinen vernünftigen Zweifel daran, dass diese Tätigkeiten nicht etwa von Zeit zu Zeit, auch nicht gelegentlich oder bedarfsweise, sondern möglichst täglich und jedenfalls in Gegenwart der ganzen jeweiligen Gruppe praktiziert werden müssen, um ihre Wirkung entfalten zu können. Diese Wirkung lässt sich rechnerisch belegen: die professionell geführte Gruppe ist der ungeführten in nahezu allen Leistungsparametern weit überlegen. Fasst man Menge, Zeit und Qualität unter den Nenner Kapazität, ergeben sich Unterschiede von deutlich über 25%. Es gibt keine Experimente und keine Forschung, die jemals zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

Gegen diese Tatsache erheben sich von Zeit zu Zeit durchaus publikumswirksame Gegenmeinungen, die allerdings bis heute den Beweis ihrer Stimmigkeit schuldig geblieben sind. So erwies sich der Traum vom unternehmerischen Mitarbeiter genauso als Illusion wie die Utopie vom hochgemuten Selbstverwirklicher. Diese Seifenblasen selbsternannter Industriereformer sind längst geplatzt. An sie erinnert noch heute der erdrutschartige Leistungsabfall, der auf die Einführung autonomer, ungeleiteter Gruppenarbeit folgte. An sie erinnert auch noch die Flut von Qualitätsproblemen, die das anfangs bejubelte lean management schmählich untergehen ließen.

In die betroffenen Betriebe kehrte nach und nach die einst verteufelte „Hierarchie“ zurück, die ja mit „Priesterherrschaft“ zu übersetzen wäre, aber etwas ganz anderes meint, nämlich einen pyramidenförmigen Aufbau. Wie auch immer – es wird wieder geführt. Allerdings hinken heute vor allem die Filial- und Außendienstsysteme noch weit hinter dieser Normalität her. Sozusagen zum Ausgleich wurde eine schicke neue Vokabel für isolierte Mitarbeiter und dürftige Leitung gefunden: virtuell. Sie sind in „virtuellen Gruppen“ tätig. Das klingt modern und gut und überdeckt die Misere orientierungsloser Einzelarbeit. Was man sich unter „virtuellem Management“ vorzustellen hat, versteht allerdings nur jemand, der wirklich weiß, dass virtuell im Deutschen „als ob“ bedeutet. Gemeint ist natürlich, dass die weit voneinander positionierten Mitarbeiter so geführt werden, „als ob“ sie in einem Raum beieinander stünden. In der Realität dagegen wird nur allzu oft nur eine bloß formale Management-Pantomime geboten.

Wirklich virtuelles Management fördert Leistung
Zuverlässig geschulte, erfahrene Leitwölfe ortsgebundener Leistungsgruppen haben wenig Schwierigkeiten in der Führung solcher virtuellen Gruppen. Meist ist ihnen die Aufgabe auch schon bekannt als Begleiterscheinung des Projektmanagements. Aus der Projektorganisation stammen denn auch die wichtigsten Methoden und „skills“ der virtuellen Führung – allen voran heute die Telefonkonferenz. Die nämlich verbindet effizient und preiswert den Leiter mit seiner Gruppe. Wo sich ehedem Organisationsgenies wie der Staufer Federico Secondo, Niccolo Machiavelli, Jakob Fugger oder Georg von Frundsberg buchstäblich um Gesundheit und Leben hetzen mussten, um die unabdingbare Kontaktdichte zu ihren Leuten zu erreichen, bietet die Technik heute komfortable Lösungen.

Die Konferenzschaltung mit oder ohne Video ist ohne merklichen Aufwand im Abonnement herstellbar. Der tägliche 30-Minuten-Kontakt bei Arbeitsbeginn oder –ende kompensiert überzeugend die körperliche Präsenz und bietet jedenfalls den Mitarbeitern mehr als nur „gefühlte Führung“. Auch Skeptiker lernen schon nach wenigen telefonischen Treffen, dass die elektronische Meetingroutine für alle Teilnehmer verbindlich und nützlich ist. Und der Leiter weiß auch schon bald, dass es wie bei einer „echten“ Zusammenkunft auf seine Inhalte und Formulierungen ankommt. Entscheidend bei all dem ist wie auch sonst bei jeder Gruppenleitung, dass die Konferenzroutine verlässlich und kalkulierbar eingehalten wird – ausnahmslos in time mit vollständiger Anwesenheit (ohne Vertretungen) und dem Kurzprotokoll binnen einer Stunde.

Gewöhnungsbedürftig ist dabei allenfalls das vor- und nachbereitende prompting mit Texten, Tabellen und Abbildungen, die den Telefonkontakt via Email bei Bedarf ergänzen können. Dass man aus der Leitung virtueller Gruppen mehr lernen kann als durch manche aufwendigen Managementseminare ist ein wesentlicher Vorteil des telefonischen Zusammenseins. Da wächst beispielsweise sehr rasch die Erkenntnis, dass Besprechungen mit mehr als zehn Personen nicht nur mühsam, sondern auch wenig ertragreich sind. Auch die theoretische Frage nach der Führungsspanne beantwortet sich allein schon aus der Telefon-Praxis. Und die faktische Wirkungsschwäche von bloßen Appellen, allgemeinen Forderungen und Ermahnungen ist nirgends so intensiv erlebbar wie am Gruppentelefon. Insbesondere der noch wenig erfahrene Leiter lernt aus der telefonischen Reaktion sehr bald, mit Vorgaben und Zielvereinbarungen sparsam umzugehen und stattdessen besser konkrete Fragen zu stellen.

Der technische Kontaktkomfort macht allerdings allzu leicht vergessen, dass virtuelles Management sehr viel direkter als eine „normale“ Leitung auf konkretes Sach- und Situationswissen angewiesen ist. Der „Virtuelle“ muss nicht nur mit den Arbeitsabläufen, mit den Arbeitsmitteln und –verfahren seiner Gruppe vertraut sein, er braucht auch ein klares Bild vom Umfeld, von den Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes einzelnen Gruppenmitgliedes. Die körperliche Distanz macht es nicht gerade einfach, prüfbare Leistung von Potemkinschen Dörfern zu unterscheiden – aber ohnehin wird er seinen 6. Sinn aktivieren müssen: In virtuellen Gruppen kann die Versuchung übermächtig werden, mit Täuschen und Tarnen über die Runden zu kommen. Wo es sonst schon mal genügen kann, einen Bericht einfach abzunicken, hätte solche Großzügigkeit in der virtuellen Gruppe dauerhafte Folgen.

Führen aus der Ferne erzieht zu Disziplin und Beharrlichkeit, fordert Vorstellungsvermögen und Phantasie heraus und belohnt gesundes Misstrauen und Vorsicht. Das alles ist aber im Grunde nur das, was man sich ja auch für das Leiten realer Gruppen wünschen würde. Es ist das Paradoxon des virtuellen Managements: Je weiter die Mitarbeiter entfernt sind, desto deutlicher tritt die reale Leistung in den Vordergrund. Zumindest in diesem Punkt ist virtuelle Führung besser als ihr Ruf.

© Georg Sieber, IST München