Extrembezüge sind der Lohn des Mutigen

Das Phänomen utopischer Managergehälter

„Die Welt will betrogen werden!“ erinnerte um 1500 der Straßburger Sebastian Brant seine Zeitgenossen und folgerte prompt: „Dann soll sie auch betrogen werden!“ 1837 schrieb der Däne Christian Andersen das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Und 1874 legte Gottfried Keller noch einmal nach: „Kleider machen Leute“ hieß die Novelle. Mit den Weisheiten von vorgestern kommt heute recht gut über die Runden, wer nach Erklärungen für dieses oder jenes wirtschaftliche Desaster gefragt wird.

Anders als BILD & Co. glauben machen wollen: Die Ursachen des aktuellen Desasters liegen nicht in der Gier einzelner Akteure, also in einem individuellen maßlosem Begehren nach Reichtum, Ruhm und Macht. Die Ursachen findet man wie schon so oft in der Mentalität der Höflinge, der Trittbrettfahrer und Schlaumeier, die zum eigenen Vorteil gemeinsam auf den Oberen einwirken. Ihr Kalkül setzt schon ein, wenn sie erkennen, dass da jemand nach dem Thron strebt. Dazu phantasierten sie allerlei Fähigkeiten in ihn hinein, von dem sie eigentlich nur das eine wissen konnten: er steht als Thronanwärter bereit. Sie sind schon zufrieden, wenn der Anwärter zuvor bereits auf einem ähnlichen, vielleicht etwas kleineren Thron gesessen hatte. Der Rest ist dann bloße „Performance“, nämlich der Eindruck vom persönlichen Auftreten des Auserwählten.

Es liegt danach auch nicht so sehr am Kaiser selber, der ja nicht unbedingt nackt herumlaufen würde. Es sind die Höflinge, die dessen angeblich vorhandene neue Kleider solange lobpreisen, bis er sich darin auch dem Volk zu zeigen wünscht. Wenn der Schwindel auffliegt, ist es natürlich leicht, den Kaiser einen Exhibitionisten zu nennen. Viel mühevoller ist es, sich mit den Beweggründen der Höflinge auseinander zu setzen.

Wieder und wieder muss daher in diesen Tagen erklärt werden, dass die Vorstandsbezüge doch von den Aktionären festgelegt werden. Sie lassen sich gern auf Vernunftwidrigkeiten ein, wenn man ihnen vernunftwidrige Vorteile verspricht. Da mag die Psychologie noch so engagiert warnen, dass es stets die Höchstbezüge sind, die unweigerlich das Risiko einer Negativauswahl bedingen. Denn extreme Gehälter locken ja nicht etwa den besten Könner in die Verantwortung, sondern sehr viel häufiger den Abenteurer, Spieler und Darsteller. Deren Chancen stehen mindestens so gut wie die des Könners. Wer immer sich nämlich mutig als fähiger Kandidat ausrufen lässt, hat das Besetzungsritual meist schon zur Hälfte gewonnen. Für hochrangige Jobs „gehandelt“ zu werden, für eine wichtige Funktion „im Gespräch“ zu sein ist schon beinahe eine Garantie für den Aufstieg.

Während man den Managern derzeit ebenso so laut wie falsch persönliche Gier unterstellt, trifft die Aufsichtsräte der Vorwurf peinlicher Unfähigkeit mit durchaus mehr Berechtigung. Der Aufsichtsrat vertritt die Interessen der Aktionäre und Mitarbeiter. Deswegen sitzen hier Vertreter des Kapitals und der Arbeitnehmer. Sie berufen die Vorstände. Sie hätten de facto die Definitionshoheit in der Frage, wer ein geeigneter Manager ist und wer nicht. Bei ihnen muss der Vorstand insbesondere die Freigabe genehmigungsbedürftiger Geschäfte beantragen. Die Aufsichtsräte müssten daher verstehen, was sie da freigeben. Dazu braucht man Sachverstand oder doch wenigstens die mentale Stabilität, sich solchen Sachverstand beizustellen.

Allzu viele Bankaufsichtsräte hatten es in den Sachfragen wohl einfach darauf ankommen lassen. Sie gaben offensichtlich zahl- und umfangreiche Geschäfte frei, von denen sie nichts verstanden. Ihre Unfähigkeit begann bereits damit, dass sie sich der Wahl zum Aufsichtsrat stellten. Aber auch die Gewerkschaften und Institutionen, die Verbände und Unternehmen, die „ihren“ Mann in den Aufsichtsrat entsenden durften, waren offensichtlich unfähig oder unwillig, ihn angemessen auszuwählen.

Die im Vergleich zur Lehrlingsauswahl geradezu freihändige Besetzung oberster Positionen wird gern damit gerechtfertigt, die Fähigkeiten des Vorstands- oder Aufsichtsratskandidaten seien aus seiner Biografie nachvollziehbar – obschon doch heute nahezu jeder fünfte Spitzenmann durch Dauermedikation, durch Alkohol, undiagnostizierte Störungen und Belastungsfolgen schon längst jene Fähigkeiten eingebüsst hat, die ihn einst nach oben brachten. Der Mental-Invalide selber weiß das meistens oder ahnt es doch zumindest. Der Mut immerhin, der ist ihm geblieben. Und ganz sicher weiß er aus eigener Erfahrung: Extrembezüge sind der Lohn des Mutigen. Da will er doch wenigstens mutig sein.

© Georg Sieber, IST München